Über Türkan Saylan und über die Türkei: Demokraten zwischen Islamismus und Militarismus
Zehra İpşiroğlu
Türkan Saylan, türkische Ärztin und Professorin, Pionierin der Leprabehandlung und unermüdliche Organisatorin von Bildungsförderung für Unterschichtkinder, besonders Mädchen, aus Anatolien, eine der bekanntesten, auch international anerkannten Persönlichkeiten der türkischen Zivilgesellschaft, hat in der letzten Zeit, nach Verschlimmerung ihrer sehr schweren Krankheit, eine Reihe von Preisen erhalten, die ihr medizinisches, humanitäres und pädagogisches Lebenswerk würdigen. Ausgerechnet in dieser Situation ist sie am 13. 4. 2009 auf unwürdige Weise in die staatsanwaltlichen und polizeilichen Ermittlungen im Rahmen der undurchsichtigen ‚Ergenekon’-Sache einbezogen worden, indem man die zwischen Klinik und Wohnung hin- und herpendelnde Schwerkranke frühmorgens unangekündigt mit großem Polizeiapparat in ihrem Haus aufsuchte, viele Stunden lang verhörte und eine Menge Papiere und Bücher abtransportierte.
Dieser rücksichtslose Zugriff auf eine der integersten selbstlosesten, als Mensch und Staatsbürgerin bewundernswertesten Personen der heutigen Türkei, die sich politisch immer nachdrücklich zu den demokratischen und laizistischen Grundlagen des modernen türkischen Staates bekannt und damit natürlich auch Feinde gemacht hat, stärkt den längst vorhandenen Verdacht, dass in der Ergenekon-Sache wie auch in anderen Bereichen, die Grenze rechtsstaatlichen Vorgehens gezielt überschritten wird, um politische Gegner der gegenwärtigen islamistischen Machthaber einzuschüchtern. Das schadet nicht nur dem möglichen politischen Aufklärungseffekt der Ergenekon-Ermittlungen, sondern muss auch die türkische und internationale Öffentlichkeit alarmieren und fordert, besonders in Europa, energische Schritte zur Aufklärung und Kritik dieses Vorgehens heraus, das in die einer EU-Annäherung genau entgegengesetzte Richtung weist.
In Europa hat man allzu lange die Augen verschlossen vor diesen beunruhigenden innenpolitischen Vorgängen in der Türkei. Die skandalöse Ermittlungsaktion gegen Türkan Saylan und die von ihr geleitete Bürgerinitiative CYDD (Gesellschaft für Modernisierung und Demokratisierung der Türkei), hat inzwischen weit gefächerte Proteste, Solidaritätsbekundungen, Spendenbereitschaft hervorgerufen. Diese Vorgänge aufmerksam wahrzunehmen, könnte dazu beitragen dass auch wir hier in Deutschland endlich die Augen öffnen und Mitverantwortung für die Verteidigung demokratischer zivilgesellschaftlicher Kräfte in der heutigen Türkei übernehmen, und sei es nur durch genaue, gewissenhafte, nicht in bequemen Vorurteilen befangene Information. Denn Türkan Saylans Stimme ist zwar eine herausragende, aber doch nur eine unter vielen anderen Stimmen in der Türkei, die sich gegen Repression und Stagnation im eigenen Land vernehmen lassen, gegen demokratiefeindliche Tendenzen sowohl von der Seite des nationalistisch-militaristischen Komplexes, zu dem auch die Ergenekon-Gruppe gehört, als auch von der Seite der regierenden Islamisten. Auch Saylans Parole, die sie unbeirrbar, klar und deutlich vertreten hat, lautet: “Wir wollen weder islamischen Fundamentalismus noch einen Militärputsch”.
Türkan Saylan ist es mit der landesweit arbeitenden Bürgerinitiative Çağdaş Yaşam in den letzten zwanzig Jahren auf bewundernswerte Weise gelungen, mit zahlreichen Projekten eine sehr große Anzahl von Menschen zu mobilisieren. Nach dem Motto “Frauen für Frauen” liegt der Schwerpunkt der Arbeit auf Unterstützung und Förderung von Mädchen und Frauen aus ärmeren Regionen und unteren Schichten. Sechs von sieben Millionen Analphabeten in der Türkei sind Frauen! Bislang gelang es Çağdaş Yasam, etwa 20.000 Kindern, vor allem Mädchen, zu einer Ausbildung zu verhelfen. Von ihnen schaffte immerhin ein Fünftel das Abitur, und einer kleinen Anzahl gelingt es sogar, erfolgreich ein Universitätsstudium zu absolvieren. Zur Basisarbeit gehören außerdem Kurse für Frauen zum Schreibenlernen, zur Familienplanung, zur Berufsausbildung. Auf diese Weise konnte eine ganze Generation systematisch so gefördert werden, dass heute etliche der Geförderten in ihren eigenen Dörfern arbeiten, vor allem als Krankenschwestern oder Lehrerinnen. Türkan Saylans Büro in Istanbul füllt sich jeden Tag mit Bewerbungen und Anträgen aus allen Gegenden der Türkei. Hilferufe aus Notlagen heraus, Stipendiumsbitten, Arbeitgesuche... Ihr schwebt nicht nur vor, möglichst jeden, der es braucht, zu unterstützen, sondern dabei vor allem auch die zu entdecken, deren Stimme sonst nirgendwo auf Gehör stößt: Mädchen und Frauen aus den entlegenen, rigoros patriarchalischen Agrargebieten der Türkei, die nur als Feldarbeiterinnen und Gebärmaschinen angesehen werden und für die der türkische Staat seit je und immer noch viel zu wenig tut. Türkan Saylan und ihre unzähligen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen suchen behutsam Zugang zu diesen vergessenen Menschen. Ihre Angebote zielen darauf, ihr Selbstbewusstsein zu wecken, sie zu motivieren und ihnen Wege aus dem Elend zu bahnen.
Schon während ihres Medizinstudiums in den fünfziger Jahren hatte sich Saylan einer besonderen Gruppe von Menschen zugewandt, die damals auf schlimmste Weise ausgegrenzt wurden: den Leprakranken, und wurde später eine weltweit anerkannte Pionierin eines modernen und humanen Umgangs mit ihnen. Trotz der Missbilligung ihrer bürgerlichen Familie ging sie unbeirrt ihren Weg, machte lange Reisen in die fernsten Bergdörfer in Anatolien, um diese Menschen aufzusuchen, die vielfach unter den elendsten Verhältnissen dahinvegetierten. In den siebziger Jahren konnte sie in Istanbul die erste moderne Spezialklinik für Leprakranke eröffnen.
Das Besondere an Saylan ist ihre gleichbleibend bescheidene und freundliche Art, verbunden mit einer sanften Kraft, die gegen alle Widerstände das Gute fördern will. Sie vermeidet jegliche Art von Polemik als sinnlose Zeitvergeudung, geht es doch darum, mit vereinten Kräften für eine gute Sache zu kämpfen, die alle anerkennen müssen. Eigentlich sind selbst die Wörter ‘Kampf’ und ‘Widerstand’ verfehlt, um sie zu charakterisieren, weil ihre ganze Mobilisierungskraft darauf gerichtet ist, immer mehr Menschen für gemeinsame soziale Produktivität zu gewinnen. Wer mit ihr umgeht, kann sich ihrer positiven Ausstrahlung nicht entziehen, muss ihre Fähigkeit bewundern, den Menschen entgegenzukommen, mit der sie ihnen Mut macht und sie motiviert Hinzu kommt ihr unglaubliches Organisationstalent, alle nur denkbaren Ressourcen zu aktivieren.
Obwohl Saylan bewusst alle Polemik verweigert, nimmt sie eindeutig Stellung gegen die traditionell patriarchalische wie auch gegen die islamistische Einengung weiblicher Emanzipation und deren Symbol, das religiöse Kopftuch. Typisch ist eine ihrer Initiativen, die sie in Zusammenarbeit mit der Istanbul-Universität unternommen hat: gezielte Beratung und materielle Unterstützung von Studienanfängerinnen aus der anatolischen Provinz, die es in der Riesenmetropole nicht leicht haben. Darum geraten sie oft in die Fänge von islamistischen Sekten und Vereinen. Nach Saylan könnte die Religion durchaus positive Ressourcen entbinden, vorausgesetzt, sie bleibt primär Privatsache, bewegt sich – im Gegensatz zum politisierten Islamismus - strikt im Rahmen moderner demokratischer Regeln und verstößt nicht gegen Frauen- und Kinderrechte.
So gehörte Saylan 2007 auch zu den Initatoren von Massendemonstationen in den grösseren Städten des Landes gegen die islamistische Regierungspartei AKP und deren Kandidaten für die Staatspräsidenschaft. Dass diese Demonstrationen auch von vielen nationalisten AKP-Gegnern unterstützt wurden führte in Teilen der türkischen Öffentlichkeit zu einer Blickverzerrung, so dass man absurderweise auch Saylan zu diesen zählte, sie sogar mit Ergenekon in Verbindung brachte, was möglicherweise jetzt die Ermittler als Legitimation dafür missbraucht haben, sie zu verhören. In der deutschen Presse aber konnte man von einer “pensionierten Hautärztin” lesen, die einem “Atatürk-Gedenkverein” vorsitze und als solche abstruse Ansichten vertrete (Karen Krüger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. Oktober 2008). Über solche journalistische Falschinformation aus Borniertheit, Ahnungslosigkeit oder Schlampigkeit können sich hier nur Türkeifeinde, dort nur jene türkischen Demokratiefeinde freuen, welche sich an der Person
Saylans schon immer gerieben haben.
Diese diffamieren diese Frau seit je mit den absurdesten, einander obendrein lächerlich widersprechenden Vorhaltungen, wie sie in der konservativ-islamistischen wie in der ultranationalistischen türkischen Presse zu lesen sind: PKK-Freundlichkeit, kryptochristliche Missionierungsabsichten, gewaltsame Entfremdung der geförderten Kinder von ihrem kulturellen und religiösen Herkunftsmilieu, Kontakt mit internationalen Firmen, die als Sponsoren agieren, Islamfeindlichkeit, Türkeifeindlichkeit, Netzbeschmutzung unter dem Deckmantel von Atatürks Namen usw.
Wer Türkan Saylan persönlich kennenlernt, ist fasziniert von ihrer hohen Empathiefähigkeit, ihrer vor allem von ihrer Offenheit für diejenigen, die ganz unten sind: ob es sozial benachteiligte Frauen aus den vormodernen Agrargebieten sind oder Frauen in einer anderen Art von Elend, dem der Prostitution, ob es Kranke und Behinderte sind oder Strassenkinder in den Großstädten. Ich selbst bin seit zwei Jahrzehnten durch gemeinsame Bildungsarbeit im Rahmen von Çağdaş Yasam mit ihr in Kontakt. Aus vielen intensiven Gesprächen mit ihr entstand 2006 mein Buch ‘Yapıcılığın Gücü, Türkan Saylan’la Söyleşiler’Doğan Yayın (Die Macht der Konstruktivität, Gespräche mit Türkan Saylan), das 2008 in zweiter Auflage erschienen ist. Dieses Buch bietet aus der Sicht dieser einzigartig erfahrenen und produktiven Frau ungemein anschauliche Einblicke ins Innere der modernen Türkei, wie sie kein Außenstehender, auch kein deutscher Türkeiexperte, gewinnen könnte.
Für mich ist es kaum zu begreifen, wie es Saylan ganz ohne Aggressivität gelingt, sich und das riesige Netzwerk von Çağdaş Yasam in einer immer noch dominant patriarchalischen und autoritären Gesellschaft durchzusetzen. Unbeirrt davon, dass es ihr an Feinden, vor allem in Kreisen radikaler Nationalisten und islamischer Fundamentalisten, nicht mangelt; dass sie sich wie viele frei denkende, demokratische Intellektuelle in der Türkei mit ständigen Drohungen oder schikanösen Prozessen konfrontiert sieht. Unbeirrt hält sie daran fest, dass es gemeinsame Grundwerte und Ziele gibt, an denen sich jeder, gleich welcher Weltanschauung, praktisch orientieren könnte und sollte. Die wichtigsten dieser Ziele sind für sie Verteidigung und Ausbau von Frauen- und Kinderrechten, Kampf gegen atemraubende Einsperrung der Menschen, vor allem wiederum der Frauen, in autoritäre und patriarchalische Milieus, Emanzipation von traditionellen, religiösen, feudalen, nationalistischen und militaristischen Mustern in der sozialen Welt draußen wie auch in den Köpfen der Menschen.
Saylans Stimme repräsentiert die Stimmen der vielen, hier in Deutschland meist sträflich ignorierten Menschen, die sich in der Türkei seit Jahrzehnten aktiv für die Demokratisierung ihres Landes einsetzen. Zugleich stellt uns ihre einzigartig produktive Lebensgeschichte die humanistischen, aufklärischen, sozialen Werte vor Augen, die der postmoderne oder sich als ‘postsäkular’ stilisierende Zeitgeist verachtet, die aber unsere Welt heute dringender braucht als je. Von alldem jedoch will man aber hierzulande möglichst nichts wahrnehmen, denn es stört bequem zurecht geschneiderte Türkeibilder. Was in Deutschland weitgehend fehlt, ist Bereitschaft zu einem kritischen, aber zugleich konstruktiven Dialog auf gleicher Augenhöhe. Dass es in der Türkei zahlreiche Intellektuelle gibt, die sich, oft genug um den Preis ihres Lebens, für Grundbedürfnisse und Grundwerte einer modernen demokratischen Türkei einsetzen, ist hier leider kaum bekannt. Ein konstruktiver Dialog wäre aber nur möglich durch ein Mindestmaß an Offenheit an Bereitschaft, eine andere Türkei zu entdecken als die im eigenen Kopf oder Milieu vorfabrizierte. Warum hören wir hier fast nie die Stimmen dieser Menschen? Sie brauchen heute mehr denn je „die offene und kritische Solidarität der Europäer“ – so schrieb der Kölner Journalist Osman Okkan 2007, der jetzt mit seinem Film über den ermordeten armenischen Istanbuler Journalisten Hrant Dink gezeigt hat, wie man solche Solidarität üben kann. Auch Türkan Saylan hätte solidarisches Interesse verdient. Welche Journalistin oder Filmautorin greift hier zu, solange die Istanbuler Ärztin,Frauenrechtlerin und Humanistin noch lebt?
Dies ist ein Artikel, der nicht nur die jüngsten Ereignisse in der Türkei beleuchtet, sondern auch eine der interessantestenn aber ın Deutschland leider kaum bekanntenPersönlichkeiten der Türkei vorstellt.