Die Massaker von 1915/16 an den Armeniern waren weder Dschihad noch geplante Ausmerzung. Die Türken standen im Krieg, wurden provoziert und verteidigten ihr Reich, behauptet Historiker Norman Stone. Eine polemische Replik auf die Genozid-These von Hans-Lukas Kieser in der vergangenen Weltwoche.
Von Norman Stone
«Der armenische ‹Genozid› ist eine imperialistische Verschwörung.» Dies sind die Worte von Dogu Perinçek, einem türkischen Marxisten, und er sprach sie in der Schweiz. Die Schweiz – Land der Freiheit und der freien Rede – hat ein (durch Volksabstimmung gebilligtes) Gesetz erlassen, das das Leugnen von Völkermord unter Strafe stellt. Das Gesetz wurde ursprünglich formuliert, um gegen Holocaust-Leugner vorgehen zu können. Es definiert nicht genau, was unter Völkermord zu verstehen ist und welche historischen Ereignisse als Genozid zu werten sind. Offenbar fallen die Massaker gegen die osmanischen Armenier im Jahre 1915 unter die Definition, denn Dogu Perinçek wurde von der Polizei einvernommen, nachdem er seine kritische Aussage gemacht hatte.
Die Polizei interessierte sich auch für Betrachtungen, die ein türkischer Historiker, Yusuf Halaçoglu, angestellt hatte. Halaçoglu, der eine historische Stiftung leitet und der die die armenische Frage von 1915 betreffenden Dokumente einem eingehenden Studium unterzogen hat, sagte in der Schweiz, dass es keine geplante türkische Ausrottung der Armenier von Anatolien gegeben habe: Hunderttausende seien wegen einer Rebellion deportiert worden, und viele von ihnen seien an Krankheit oder Hunger gestorben. Dies ist eine vertretbare These, die Geschichtsforscher, die mit den Quellen vertraut sind, akzeptieren oder zumindest ernst nehmen. Nun existiert aber eine armenische Diaspora, der es irgendwie gelungen ist, diese oder jene öffentliche Körperschaft davon zu überzeugen, «Genozidleugnung» zu einem Verbrechen zu machen. Im Falle von Professor Halaçoglu wurde sogar die Interpol eingeschaltet.
Tod in der Verbannung
Dogu Perinçek, als ein altes marxistisches Schlachtross bekannt, und ich selber – der einst Reden für Margaret Thatcher schrieb – sind politisch meilenweit voneinander entfernt, aber ich stimme mit ihm völlig überein, was die armenische Angelegenheit betrifft, oder ich bin zumindest nicht von den Genozidvorwürfen überzeugt. Wenn die armenische Diaspora selber ihrer Sache so sicher ist, sollte sie ihren Fall einem ordnungsgemässen Gericht unterbreiten. Sie hat dies nie getan und es vorgezogen, diverse Politiker so zu betören, zu verwirren, anzuöden oder zu bestechen, dass sie diesen oder jenen Gesetzesentwurf einbrachten.
Hans-Lukas Kieser vertritt in seinem Artikel in der Weltwoche (Nr. 42.06) die Auffassung, dass im Jahre 1915 ein Völkermord an den Armeniern begangen wurde. Nun stimmt es, dass damals die armenische Bevölkerung von fast ganz Anatolien deportiert wurde und dass es zu einigen wohldokumentierten Massakern kam. Missionare und Diplomaten waren Zeugen dieser Ereignisse und haben über sie Bericht erstattet. Es gibt Auseinandersetzungen über die Zahl der Umgebrachten und darüber, wie sie starben. Yusuf Halaçoglu (dessen Werk von Kieser nicht erwähnt wird), der sich auf von osmanischen Behörden erhobene Statistiken beruft, nennt die Zahl von 550000 Deportierten und sagt, von diesen seien 50000 gestorben, wobei die Hälfte davon getötet wurde. Ein besonders grauenhaftes Massaker wurde in der Nähe von Erzincan veranstaltet, und die Flüsse waren voller herabtreibender Leichen. Im Exil starben die Deportierten an Hunger und Seuchen. Stanford Shaw (von Kieser auch nicht erwähnt) – er war Professor in Kalifornien – nennt die Zahl 300000. Diaspora-Armenier, die 300000 als eine verharmlosende Beleidigung empfanden, versuchten, Shaws Haus mit einer Feuerbombe in Brand zu stecken. Wie gross war der Anteil der Gesamtbevölkerung Anatoliens, der in jener Zeit an Hunger oder Epidemien starb? Ein Viertel? Ein Drittel? Niemand weiss es wirklich.
Im Jahre 1914 brach ein Krieg zwischen Russland und der Türkei aus, wobei die Russen sich auf christliche Solidarität mit den Armeniern beriefen. In der russischen Armee dienten vier armenische Regimenter, und als sie die Grenze überschritten, rebellierten die Armenier in der Stadt Van. Die Osmanen beschlossen darauf, die armenische Bevölkerung, die etwa einen Fünftel der Gesamtbevölkerung Anatoliens ausmachte, zu deportieren. Viele, sehr viele starben. War dies ein beabsichtigter Völkermord, oder bedeutete die «Deportation» nach Syrien das, was das Wort besagt?
Es gibt verschiedene Dinge dazu zu sagen. Erstens einmal: Viele Armenier überlebten. Kieser erwähnt dies nicht, aber die Armenier in den Städten Istanbul und Izmir wurden nicht deportiert. Diejenigen in Aleppo überlebten ebenfalls. Wenn man den Vergleich mit dem Holocaust anstellen will, dann ist dies, wie wenn die Juden von Berlin, Wien und Frankfurt verschont worden wären. Würde Hans-Lukas Kieser Stanford Shaws fünfbändige Geschichte des türkischen Unabhängigkeitskriegs lesen (in seinem Artikel unerwähnt), würde er begreifen, was geschah. Die Armenier wurden deportiert und starben in grosser Zahl. 1917 wurde ihnen die Rückkehr nach Ostanatolien erlaubt. 1918 wurde Armenien unabhängig. Mit der Unterstützung von Grossbritannien und Frankreich machten sich die Armenier daran, einen Staat zu schaffen, der grösser ist als das heutige Armenien (unter anderem beanspruchten sie Batum, Erzurum und verschiedene andere Städte). Nebenbei gesagt, praktizierten sie dabei in grossem Stil, was man heute «ethnische Säuberung» nennt.
Opfer einer Verschwörung
Ein junger Historiker der Universität Harvard, der auf das Osmanische Reich und das zaristische Russland spezialisiert ist, hat das Geschehen dokumentiert (auch seine Forschungsarbeit bleibt bei Kieser unerwähnt): Die Armenier verliessen die wichtigsten Städte der Türkei, um sich im neuen Armenien niederzulassen. 1920 brach Nordarmenien zusammen. Kurz darauf flohen auch Hunderttausende von Südarmeniern auf französisches Gebiet – Syrien, Libanon, Tunesien und schliesslich auch nach Frankreich selber. Die Niederlage Nordarmeniens wird übrigens von dem armenischen Historiker Richard Hovannisian (einem ehemaligen Mitarbeiter Stanford Shaws) ausgezeichnet beschrieben. Sein vierter Band ist meiner Ansicht nach ein Klassiker. Es ist eine ungeheuer traurige Geschichte, denn jeder, der mit der Türkei vertraut ist, wird mir beipflichten, wenn ich das Verschwinden der Armenier (wie auch der Griechen) aus der Türkei zutiefst bedaure. Um aber gegenüber den Türken fair zu bleiben, muss man auch sagen, dass sie Opfer einer «imperialistischen Verschwörung» wurden und dass die Armenier sich dabei als Werkzeug benutzen ließen.
Wollte die osmanische Regierung 1915 die Armenier auf die gleiche Weise ausrotten, wie dies Hitler später mit den Juden tun sollte? Bernard Lewis, dem eminenten Historiker und Islamkenner der Universität Princeton, wurde diese Frage von Le Monde gestellt, und er wich einer direkten Antwort aus. Er sagte: «Es hängt davon ab, was man unter ‹Genozid› versteht.» Darauf wurde er von Armeniern vor Gericht gezerrt. Er gewann vier der Verfahren, worauf seine Gegner Berufung einlegten. (Bernard Lewis ist heute neunzigjährig, und seine erstmals 1963 veröffentlichte Geschichte der modernen Türkei ist immer noch erhältlich.) Lewis verlor den fünften Prozess und wurde zur Bezahlung einer symbolischen Strafe von einem Franc verurteilt, weil er die Gefühle von Menschen verletzt habe. Die französische Justiz ist wahrhaft bizarr. Die Tatsachen geben Bernard Lewis recht: Es gibt kein Dokument, das zeigt, dass die osmanische Regierung «Völkermord» beabsichtigte.
Ein intelligenter Gelehrter auf der armenischen Seite, der türkische Historiker Taner Akçam, vertritt die Auffassung, dass gerade das Fehlen eines Dokuments für einen «Völkermord» spricht. Der bekannteste Autor zum Thema der armenischen Frage ist Vahakn Dadrian, der unermüdlich die Völkermord-These vertritt. Dadrian verteidigt Dokumente als echt, die allgemein als Fälschungen betrachtet werden, und zwar als Fälschungen, die nicht weniger grotesk sind als die berüchtigten «Hitler-Tagebücher»: 1920, als Armenien im Begriffe war zusammenzustürzen, legte ein Journalist namens Andonian Dokumente vor – etwa vierzig angebliche Telegramme –, die zeigen sollten, dass der osmanische Grosswesir Talaat die Vernichtung der Armenier befahl, einschliesslich Kindern in Waisenhäusern. Diese Dokumente wurden nach London und Paris weitergeleitet. Sie wurden von den britischen Justizbehörden nie verwendet, und auch ein deutsches Gericht, das den Fall des späteren Mörders von Talaat behandelte (und diesen freisprach), anerkannte sie nicht. Die besagten Dokumente sind inzwischen verschwunden – was kaum für ihre Authentizität spricht. Trotzdem verteidigt Dadrian sie.
«Beweise» sind Fälschungen
Was lässt sich über die angeblich den Genozid beweisenden Dokumente sagen? Das Papier, auf dem sie geschrieben waren, stammt von einer französischen Schule in Aleppo. Dadrian erklärt dies mit einer 1915 herrschenden Papierknappheit. Die Unterschrift des Gouverneurs ist falsch. Dadrian: Die Leute ändern ihre Unterschriften. Die Datierung ist falsch, weil der Fälscher nicht realisierte, dass das muslimische Jahr im März beginnt, und deshalb die Dokumente mit einer Jahreszahl datierte, die unserem 1916 und nicht unserem 1915 entspricht. Diese offensichtlich gefälschten Dokumente sind das einzige direkte Beweisstück für einen von den Osmanen bewusst beabsichtigten «Völkermord». Es gibt in diesem Zusammenhang noch weitere Beweisfetzen, die der sehr respektierte amerikanische Historiker Guenter Lewy (Amherst-Universität, Massachusetts) darlegt. Sein Verleger ist gewöhnlich die Oxford University Press. Dieser Verlag hat sich geweigert, sein Buch über die armenischen Massaker zu publizieren, mit der Begründung, er vertrete einen «türkischen Leugnungsdiskurs». Das wissenschaftlich seriöse Buch wurde dann von der Universität Utah publiziert.
Wir kommen nun zum Kern der Sache. Die Briten besetzten Istanbul von Ende 1918 bis Ende 1922. Sie hatten freien Zugang zu den Archiven, und sie verhafteten 150 prominente Türken, die sie auf Malta festhielten. Keine Beweise, die ihnen Genozid nachweisen würden, sind je aufgetaucht. In ihrer Not wandten sich die Briten an das amerikanische Staatsdepartment und fragten, ob dieses irgendwelche belastende Unterlagen gegen die türkischen Beamten besässe. Immerhin waren amerikanische Konsuln Zeugen der Ereignisse von 1915 und 1916 gewesen. Die Antwort der Amerikaner: Wir besitzen keine Beweise. Nun werden Historiker aus der armenischen Diaspora behaupten, dass a) die türkischen Nationalisten die britischen Offiziellen unter Druck setzten und b) die Amerikaner bereits damals begannen, sich für das Öl im Nahen Osten zu interessieren, und es deshalb vermieden, die Türken vor den Kopf zu stossen. Wie dem auch sei: Sind dies wirklich schlüssige Argumente für einen «Völkermord»?
Was bleibt, sind die Massaker an den Armeniern. Niemand bestreitet sie. Die Frage ist: Warum kam es zu den Massakern? Kieser scheint zu glauben, dass eine Art kollektiver Wahnsinn die türkischen Führer von 1915 leitete – eine Mischung von islamischem Dschihad und von Möchtegern-jakobinischem Nationalismus, ein Wahnsinn, der auf die Vernichtung von Minderheiten hinsteuerte. Nun muss man sich vergegenwärtigen, dass die Türken damals in einem Weltkrieg gegen Feinde standen, die eine Aufteilung Anatoliens planten. Die Russen waren vom Kaukasus her eingedrungen, die Briten hatten die Dardanellen angegriffen, und die Franzosen bildeten eine armenische Legion auf Zypern aus. (Kieser erwähnt zu Recht Franz Werfels «Vierzig Tage des Musa Dagh», aber die Chronologie ist ihm entgangen: Der Aufstand ereignete sich vor den Deportationen und war die direkte Folge des französischen Eingreifens in der Südtürkei.) Ein armenischer Aufstand hatte bereits in Van stattgefunden, und obschon Kieser glaubt, es habe sich dabei um eine defensive Aktion gehandelt, sahen es die Russen, die das Gebiet zwei oder drei Wochen später besetzten, anders. Michael Reynolds hat die einschlägigen Dokumente studiert. Demgemäss notierte der Vizekönig des Kaukasus, dass die Armenier sich jede Art von Grausamkeit zuschulden hatten kommen lassen – sie töteten Greise, Frauen und Kinder. Dies rief eine ungeheure türkische Reaktion hervor. Der Trost bestand für den Vizekönig darin, dass Russland sich «Armenien ohne die Armenier» einverleiben konnte. Niemand scheint die Armenier besonders geschätzt zu haben.
Ein Aspekt der Angelegenheit ist meines Wissens noch nie richtig untersucht worden: das Verhältnis zwischen den armenischen Nationalisten und der Art des russischen Terrorismus, den Dostojewski in «Die Besessenen» beschreibt. Die osmanischen Armenier waren, wie dies Kieser vermerkt, gut integriert. Sie lieferten mehr als ihren proportionalen Anteil an Diplomaten, Verlegern, Spezialisten jeder Art und wurden von britischen Reisenden des 19. Jahrhunderts als «christianisierte Türken» betrachtet. 1821, als die Griechen rebellierten, waren es loyale Armenier, die den orthodoxen Patriarchen töteten. 1870, als das Osmanische Reich begann zusammenzufallen, verschrieben sich einige Armenier der nationalen Sache. Die zwei revolutionären armenischen Organisationen hatte sogar russische Namen: Hinschak heisst «Glocke», ein Echo von Alexander Herzens Kolokol, und Daschnak heisst «Föderation», ein Echo des frühsozialistischen jüdischen «Bunds».
Die Taktik dieser Dostojewski-Figuren war einfach genug: Man provoziert die Polizei mit einer Terrorhandlung, die Polizei antwortet auf plumpe Art, Unschuldige leiden, die Öffentlichkeit sympathisiert mit deiner Seite. Wichtig ist, dass man anfänglich Abweichler im eigenen Lager, die vor solchen Taten warnen, umbringt. Ein Beispiel dafür ist der Bürgermeister von Van. Der Terror der armenischen Nationalisten nahm auf diese Weise in den 1880er Jahren seinen Anfang, und sie verstanden es ausgezeichnet, die westliche öffentliche Meinung für sich zu gewinnen. Bis auf den heutigen Tag bleiben die «armenischen Massaker» im Bewusstsein des westlichen Publikums. Nun warnten aber die Konsuln jener Zeit vor den armenischen Terroristen, wie dies ein fundiertes Buch von Jeremy Salt schildert (von Kieser nicht erwähnt). Bis heute ist es eine Tatsache, dass die Türken sich in Sachen Public Relations ungeschickt anstellen: Die armen Kerle können einfach nicht gut lügen. Aber es gibt schlimmere Sünden. Das ganze Land ist auf Flüchtlingen aufgebaut: der Kaukasus, die Krim, der Balkan. Laut Justin McCarthy (in «Death and Exile», von Kieser einmal mehr nicht erwähnt) waren es sieben Millionen Flüchtlinge, und eine enorme Zahl davon kam um. Wenn wir uns bloss der Armenier erinnern und die andern Opfer vergessen, sind wir eines zivilisierten Landes unwürdig und machen wir uns des Rassismus schuldig.
Eine Tragödie für alle
Ein herausragendes armenisches Opfer der Ereignisse war Patriarch Ashikyan. 1890 bezog er klar Stellung und warnte in einer Predigt in der Kum-Kapi-Kathedrale vor den Nationalisten. Er sagte, Türken und Armenier hätten tausend Jahre lang zusammengelebt und sie seien sogar Alliierte im Kampf gegen Byzanz gewesen. Ihre Kultur habe geblüht (Was sie wirklich tat. Man besuche das armenische Quartier in Jerusalem, wo eine ausgezeichnete und würdige Ausstellung zu sehen ist, die auch nicht eine Spur von Selbstmitleid enthält). In keinem Teil des Osmanischen Reichs, sagte der Patriarch, machten die Armenier eine Mehrheit aus (Die Stadt mit dem höchsten armenischen Bevölkerungsanteil war übrigens Ankara). Wenn die Nationalisten – so der Patriarch – die Türken provozieren sollten, würde dies zu endlosem Blutvergiessen führen und das Verderben der Armenier bedeuten.
Der Patriarch hatte natürlich recht. Und was war die Antwort der Nationalisten? Sie erschossen ihn.
Wenn Sie in die Osttürkei fahren, besuchen Sie Kars. Es war früher eine arme und schmutzige Stadt. In jüngerer Zeit hat es gewisse, bitter nötige Fortschritte gemacht, die zweifellos mit der Pipeline zusammenhängen, welche kaspisches Öl ins Mittelmeer bringt.
Kars liegt an der armenischen Grenze, und die Ruinen der alten Hauptstadt Armeniens – Ani – liegen überall herum. Wenn Sie über die Grenze schauen, sehen Sie einen Steinbruch, und das dort verwendete Dynamit beschädigt die Ruinen auf der türkischen Seite. Armenien ist heute ein Armenhaus, das jedes Jahr an Bevölkerung verliert. Die Hauptbeschäftigung scheint Schlangestehen für Visa zu sein. In der Sowjetzeit hatte Armenien drei Millionen Einwohner. Es wurde unabhängig und nahm Karabakh den Aseris weg, von denen heute drei viertel Millionen Flüchtlinge sind. Was hat dies Armenien gebracht? Es ist heute ein armes Binnenland ohne Aussenhandel, dessen Bevölkerung um die Hälfte geschrumpft ist. Die Armenier stimmen mit ihren Füssen ab. 70000 leben schwarz in Istanbul. Tatsache ist, dass die armenische Unabhängigkeit dem Volk mehr geschadet hat, als es die Türken je taten. Heute gibt es 1500000 Armenier weniger als damals.
Hätte die armenische Diaspora die Interessen ihres eigenen Landes auf dem Herzen, dann würde sie dem eigentlichen Problem ins Gesicht schauen. Damals, 1915, tobte ein Krieg. Christen und Muslime wurden in einen Zustand der Feindschaft gezwungen. Beide waren im Fehler. Die Memoiren von Talaat Pascha, dem osmanischen Minister, der die Hauptverantwortung für die Ereignisse trug, tönen wahr: Was geschah, war ihm zutiefst zuwider. Dasselbe lässt sich für den damaligen deutschen Kommandanten sagen, Bronsart von Schellendorf. Die armenische Tragödie ist eine Tragödie für alle: für die Türken wie für die Armenier. Die Türkei brauchte zwei Generationen, um sich davon zu erholen. Aber seien wir fair: Wer provozierte wen? Franz Werfel schrieb in seinem Vorwort zu «Vierzig Tage»: «Nicht gegen Türken polemisieren». Die moderne Türkei ist das einzige Land zwischen Athen und Singapur, in dem Leute zu leben wünschen. Sie hat ein riesiges Einwandererproblem, unter anderem mit armenischen Immigranten. Juden, darunter prominente Wissenschaftler, wurden von den Türken vor Hitler just dann gerettet, als Werfel sein Buch schrieb. Er wusste, was er sagte.
Der in Edinburg geborene Norman Stone ist ein auf europäische Geschichte spezialisierter britischer Historiker, der zahlreiche historische Werke, darunter eine Hitler-Biografie, veröffentlicht hat. Nach 13-jähriger Tätigkeit als Professor für Moderne Geschichte an der Universität Oxford siedelte er in die Türkei über und lehrt gegenwärtig an der Koç-Universität in Istanbul.