Tayfun Keltek, Vorsitzender LAGA NRW
Rede anlässlich der Kundgebung in Düsseldorf 30.03.08
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Die PISA-Studien haben belegt, dass das wichtigste Ziel der staatlichen Bildungsangebote, die Chancengleichheit, vor allem
für Migrantenkinder in unserem Land nicht gewährleistet ist.
Ein türkischstämmiger Junge mit derselben schulischen Qualifikation wie ein deutschstämmiger Junge hat drei mal weniger Chancen einen Ausbildungsplatz zu finden.
Deutschland gehört in der Chancenungleichheit im Bildungswesen zur Weltspitze.
Die sozioökonomische Herkunft bestimmt die Zukunft der Kinder, Armut und Bildungsferne werden in die nächste Generation vererbt, und damit eine Mehrklassengesellschaft auf die Dauer zementiert.
Dieser Prozess läuft nicht nur auf Kosten der Migranten, sondern auch auf Kosten der Deutschen mit geringerem Einkommen.
Das ist den Kindern gegenüber ungerecht. Kein Kind kann sich seine Eltern, sein Elternhaus und die Möglichkeit, dort gefördert zu werden, aussuchen.
Auf der anderen Seite verzichtet unsere Gesellschaft so auf Talente, auf geistige Potenziale, die für unsere Zukunft wichtig wären.
Migrantenfamilien und ihren Kindern werden aus meiner Sicht zusätzliche Erschwernisse auferlegt.
Diese Erschwernisse müssen beseitigt werden, denn:Gute Schulerfolge sind auch für Migrantenkinder durchaus möglich, aber leider eher in Schweden, Finnland oder Kanada als in Deutschland.
Die PISA-Studie weist z.B. darauf hin, dass Schüler mit Türkisch oder Italienisch als Muttersprache in Schweden besser Schwedisch sprechen als Deutsch in Deutschland.
In Schweden hat jedes Kind, ohne Rücksicht auf die Herkunft, Anspruch auf seine Muttersprache.
An den unzureichenden sprachlichen Kompetenzen bei uns sind nicht die Kinder selbst oder ihre Eltern schuld.
Unsere Schulen bieten nicht die Angebote an, die die Schüler brauchen.
Das Drama vieler Migranten besteht darin, dass sie von der ersten Klasse an auf Deutsch lernen müssen, also in einer Sprache, die viele von ihnen noch nicht richtig beherrschen.
Sie können nicht in ihrer Muttersprache nachfragen, ob sie alles verstanden haben, ob sie auf dem richtigen Lernweg sind.
Viele Kinder bekommen also schon bei der Alphabetisierung nicht die sichere Basis, von der aus sie weiterlernen können.
Der schulische Misserfolg ist hier vorprogrammiert.
Dieser Weg des schulischen Lernens hat sich nicht nur in Deutschland, sondern auch international als Irrweg erwiesen, er muss schnellstens aufgegeben werden.
Es ist ein Skandal, wenn 50% der Migrantenjugendlichen nach 9 jährigem Schulbesuch immer noch nicht richtig lesen und schreiben können.
Eine öffentliche Diskussion müsste vor allem über diesen Missstand unseres Schulsystems geführt werden, und nicht nur über Abschiebung der hier geborenen Jugendlichen.
Meine Damen und Herren,
Das Ziel muss sein, den Schulerfolg der Kinder mit dem türkischen Hintergrund zu verbessern.
Die Unterrichtsprache ist Deutsch, welches der Schüssel für den Schulerfolg ist.
Man kann die deutsche Sprachkompetenz nicht dadurch optimal fördern, in dem man den Umfang des falschen Ansatzes der Sprachförderung erhöht, wie z.B noch mehr Deutsch zu unterrichten als bisher.
Alle vorhandenen Sprachkompetenzen des Kindes dürfen nicht ausgeblendet werden, sondern sie müssen vielmehr im Mittelpunkt der Sprachförderung stehen.
Die Förderung der Muttersprache bietet die beste Grundlage für das Erlernen der deutschen Sprache.
Die Vernachlässigungder Muttersprache in diesem Zusammenhang heißt ein halbes Kind zu fördern und damit die Erfolgschancen des Kindes auf Spiel zu setzen.
Meine Damen und Herren,
Das selektive Schulsystem, das für individuelle Förderung wenig Raum lässt und sich immer nachteilig für Kinder aus sozioökonomisch schwachen Familien auswirkt, ist auf internationaler Ebene nicht vertretbar.
Dieses Schulsystem etabliert sich vor allem in Großstädten auf Kosten der Migrantenkinder.
Ohne Migrantenkinder hätten viele Hauptschulen und Förderschulen längst geschlossen werden müssen.
Dieses Schulsystem fördert nicht alle Kinder, sondern stigmatisiert viele Kinder sehr früh und vernichtet damit spätere Entwicklungsmöglichkeiten.
Dieses dreigliedrige Schulsystem gilt es abzuschaffen.
Wir brauchen also dringend einen Paradigmenwechsel. Deutschland ist längst ein mehrsprachiges Land geworden.
In Köln zum Beispiel haben 48% aller Kinder unter 18 Jahren
einen Migrationshintergrund, die Tendenz ist steigend.
Mehrsprachigkeit ist aber kein Makel, für den man sich schämen muss, sondern ein großer Schatz, ein Reichtum, und für das sprachliche Lernen aller Kinder eine enorme Chance.
Dieser Perspektivwechsel eröffnet einerseits neue Wege für das schulische Angebot für mehrsprachig aufwachsende Schüler und ihre Mitschüler.
Wenn die Schule sowohl die Muttersprache als auch die Religion und Kultur ihrer Schüler ignoriert, sogar als Defizit ansieht und das Sprechen ihrer Muttersprache in der Schule verbietet, wird es für die Eltern schwierig sein, sich emotional mit der Schule ihrer Kinder zu identifizieren.
Die heutige Schule darf den Migranten nicht wie ein notwendiges Übel vorkommen, sondern muss einen interkulturellen Lebensraum bieten.
Die EU fordert seit 1997 die interkulturelle Schule als Regelschule.
Meine Damen und Herren,
Wir können die Menschen mit Migrationshintergrund nicht davon überzeugen, dass sie in unserer Gesellschaft willkommen und gleichberechtigt sind, wenn wir Ihnen gleichzeitig zu verstehen geben, dass ihre Sprache und ihre Kultur nicht gleichwertig, ja sogar minderwertig seien.
Wer seine Herkunft leugnet oder leugnen muss, kann keine gesunde Identität entwickeln.
Aber nur ein Mensch mit gesunder Identität und Selbstwertgefühl ist in der Lage, sich neuen Lebensformen und Kulturen und damit der Integration zu öffnen.
Daher ist eine wichtige Voraussetzung für eine gelungene Integration, die Sprache, Religion und Kultur
der Migranten gleichberechtigt nach dem Gebot des Grundgesetzes zu behandeln und zu fördern.
Dies würde sicherlich unsere gesamte Gesellschaft bereichern.
Im Sinn der Integration und des Schulerfolges unserer Kinder zusammenfassend fordere ich:
1. Zweisprachige Kindergärten
2. Zweisprachige Alphabetisierung flächendeckend in den
Grundschulen
3. Zweisprachige Schulen mit der Muttersprache der
Migrantenkinder.
4. Muttersprache als Unterrichtsfach in der Grundschule:
Englischunterricht in der Grundschule finde ich zwar wichtig, aber gleichzeitig stelle ich mir die Frage: Was bringt einem türkischen Kind dieses Fach in der Grundschule, wenn dieses Kind noch nicht einmal richtig die deutsche Sprache oder seine Muttersprache beherrscht?
Insbesondere das Erlernen der Muttersprache unterstützt selbstverständlich die deutsche und später auch die englische Sprache sowie weitere Fremdsprachen.
Schulen müssten eigentlich von den individuellen Kompetenzen der einzelnen Kinder ausgehen und nicht nur starre allgemeingültige Angebote machen. Eine Orientierung auf die Herkunft des Migrantenkindes ist unerlässlich.
5. Die Muttersprache muss statt einer Fremdsprache
flächendeckend praktiziert werden.
6. Abitur in der Muttersprache sollte eine Selbstverständlichkeit
sein.
7. Nicht nur die Uni- Essen sondern weitere Hochschulen
sollten Lehrer mit dem Unterrichtfach Türkisch ausbilden.
Wenn wir die Integration zum greifen bringen wollen, muss die Muttersprache als eine Plattform für weitere Entwicklungen und Werdegänge der Migrantenkinder einbezogen werden.
Die Muttersprache ist der wichtigste Bestandteil des Integrationsprozesses.
Wer die Muttersprache nicht fördert, der behindert die Integration.